Guillaume Apollinaire ist todkrank, sein Körper schwarz, tief schwarz.
Eine Folge des Sauerstoffmangels, die Lunge ist schon voll mit Flüssigkeit.
Er stirbt an der “Spanischen Grippe”, 1918.
Sie hieß so, weil man nur aus Spanien davon wusste.
Die Pressezensur verhinderte Berichte über die Grippeepidemie.
Jeder dritte Mensch auf der ganzen Erde war zwischen 1918 und 1920 infiziert. Zwischen 2.5 und 5% der Weltbevölkerung starben daran. Man geht von bis zu 100 Millionen Toten aus: mehr als die Toten des ersten und zweiten Weltkrieges zusammen. Nach Europa kam die Grippe vor allem mit amerikanischen Truppentransportern, die in Brest tausende kranke Soldaten an Land ließen. Der Krieg im Schützengraben ging auch deshalb nicht weiter, weil auf beiden Seiten die Soldaten krank in den Gräben lagen.
Europa war nicht so schlimm betroffen, Indien am schlimmsten . Bis auf die Arktis waren alle Erdteile infiziert. Immer da, wo die Infrastruktur entwickelt war: Häfen, Eisenbahnlinien, Städte.
Und da, wo viele Menschen zusammenlebten und zusammenkamen.
Die Krankheit war demokratisch und gleichmacherisch,
die sozialen Verhältnisse nicht. In Paris waren die bürgerlichen Stadtteile besonders betroffen. Es starben die Dienstmädchen,
die hart arbeitend, in kleinen, dunklen und dreckigen Zimmern untergebracht,
sich die Betten teilten und Grippeviren sozusagen “freie Fahrt“ hatten.
In New York setzte die Schulbeauftragte durch, dass die Grundschulkinder in die Schule gehen mussten: eigentlich bei einer Ansteckungskrankheit nicht die richtige Maßnahme. Die Wohnverhältnisse waren aber noch gefährlicher. Sie hat vielen Kindern das Leben gerettet.
Ein christlicher Geistlicher war empört über das Verbot Gottesdienste abzuhalten, war ja mangelnde Gottesfurcht die Ursache der Krankheit. Er rief zu vermehrtem Zusammenkommen in die Kirche: er hat seine spanische Stadt um einen großen Teil der Bevölkerung gebracht.
In der chinesischen Provinz Shanxi herrschte ein Warlord, der zwei christlichen Missionaren den Umgang mit der Grippe überließ: Sie hatten schon eine Ahnung von Infektionskrankheiten und retteten vielen Menschen das Leben.
Die europäischen Länder, auch Sowjetrussland, Persien, China bauten in Folge dieser Grippepandemie ein staatliches Gesundheitssystem auf und schufen die Grundlagen für eine weltweite Bekämpfung solcher Pandemien.
Als Reaktion auf die Grippe entstanden unser Bedürfnis nach Sport und frischer Luft, aber auch die Eugenik. Während die Pest in das gesellschaftliche Bewußtsein eingegangen ist, wird die Spanische Grippe als individuelle Tragödie begriffen. Da ist sie nicht.
Sie ist das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts.
Doch.
Wie erzählt man davon? Wie erforscht man eine solche Katastrophe?
So als würde man in ein Kaleidoskop schauen, aus vielen Blickwinkeln und aus immer neuen Perspektiven. So machen das afrikanische Frauen beim Erinnern. So machen das die Wissenschaftler beim Erforschen.
Und so macht das die Autorin beim Erzählen.
Großartig. Ich habe das Gefühl einen tollen, etwas experimentellen, Roman gelesen zu haben, der meinen Blick auf die Welt verändert hat.
Absolut spannend.
Laura Spinney, 1918 – Eine Welt im Fieber
Hanser Verlag, 26 €