Lizzie Doron im Interview

aus Tel Aviv

Lizzie Doron am 23.10.2023
auf unserer Veranstaltung. Im April/Mai 2025 wird sie
ihr neues Buch bei uns vorstellen.

Interview: Lizzie Doron über Israel:
„Ich bin eine Feindin im eigenen Land“

Sie ist über siebzig, ihre Kinder haben Israel verlassen, sie aber harrt in ihrer Heimat Tel Aviv aus: Die Schriftstellerin Lizzie Doron über Gedanken im Schutzraum, Strategien des Überlebens und Sprache als Fluchtort.

Kira Kramer

Lizzie Doron, Sie sind Schriftstellerin und leben in Tel Aviv. Seit einem Jahr herrscht Krieg. Können Sie überhaupt noch schreiben?

Ich schreibe die ganze Zeit wie verrückt. Das Schreiben ist der einzige Ort, an dem ich mich frei fühle. Im Schreiben drückt sich meine Hoffnungslosigkeit aus – aber diese Hoffnungslosigkeit ist auch kraftvoll. Alle Themen, Figuren, Ereignisse, die in meinen Texten vorkommen, handeln von dem neuen Leben seit dem 7. Oktober vor einem Jahr. Es ist eine neue Realität, die mich umgibt. Und die einzige Weise, wie ich mit dem, was passiert, umgehen kann, ist, diese Realität in geschriebene Worte zu verwandeln. Ich habe ein Buch geschrieben, eine Art Tagebuch, das dokumentiert, was seither passiert ist – mit mir und meiner Familie. Als Nächstes will ich ein Kammerspiel schreiben: Zwei Menschen sitzen im Schutzraum und warten darauf, dass die Rakete kommt. Es ist wie „Warten auf Godot“. Ein Warten auf etwas, das sie nicht kontrollieren können, etwas, von dem sie nicht wissen, wann es kommt und wie das Ergebnis sein wird.

Wie sieht das neue Leben in Ihrem Land aus?

Es ist nicht mein Land, ich habe kein Land mehr. Ich fühle mich diesem Land nicht mehr verbunden, und dieses Land will Menschen wie mich nicht. Ich wurde besiegt – von seiner Regierung, von Extremisten. Jetzt bin ich staatenlos, ein mentaler Flüchtling. Ich habe zwar ein Haus und einen Pass, aber meine Identität sucht nach einer neuen Heimat.

Also gut, wie sieht Ihr neues Leben in Israel aus?

Mein tägliches Leben hier in Tel Aviv hat sich grundlegend verändert. Körperlich geht es mir nicht gut. Ich kann kaum schlafen, das Essen fällt mir schwer. Und auch das Leben in meiner Wohnung ist anders. Der wichtigste Raum ist der Schutzraum geworden. Ich habe dort sogar Blumen aufgestellt, weil ich darin so viel Zeit verbringe. In einem feuersicheren Fach im Schutzraum liegen alle wichtigen Dinge. Keine Bilder und Bücher, sondern Bargeld, Visa-Karten, Pässe und alle Medikamente, die wir brauchen. Wir leben im Ausnahmezustand: Der 7. Oktober fühlt sich wie ein Tag an, der einfach nicht enden will. Wir warten. Aber wissen nicht, worauf.

Auf das Ende des Ausnahmezustands, nehme ich an.

Das gibt es nicht. Die derzeitige Situation zerschneidet selbst die Familienbande. Wir hatten noch einige Wochen nach dem Überfall auf Israel jeden Freitag ein Familienessen, wie wir es seit Jahren machen – dazu gehörten schon immer politische Diskussionen, Witze, Geschichten, Gossip. Aber jetzt machen wir es nicht mehr. Zwei Monate nach dem 7. Oktober war ein Cousin dabei, der in Amerika wohnt. Er sagte, er unterstütze den rechtsextremen Politiker Itamar Ben-Gvir. Ich konnte es nicht fassen. Dieser Mann ist mein Feind. Er steht für alles, was ich ablehne. Ich habe auch die Beziehung zu Freunden und Bekannten abgebrochen, die einen solch radikal anderen Blick auf die Situation haben.

Im Krieg scheint so auch der offene Diskurs zu sterben.

Kompromisse finden in Israel nicht mehr statt. Politisch gibt es keine Graustufen mehr, es geht nur noch um Sieg und Rache. Alles, worüber ich mir mal Gedanken gemacht habe, wofür ich mal gekämpft habe, gibt es im heutigen Israel nicht mehr. Und das, worüber wir nicht sprechen, verschwindet aus unserem Geist. Das Einzige, das im Moment eine Rolle spielt, ist das Überleben. Meine Tochter hat mich gefragt, ob ich noch immer Lust auf das Leben habe. Sie ist Mitte dreißig und sagt, ihr fehlt die Energie weiterzumachen. Sie lebt mittlerweile nicht mehr in Israel und ist mit ihrer Familie nach Washington gezogen. Aber ich bin die zweite Generation, ich bin die Tochter von Holocaust-Überlebenden. Ich werde bis zum letzten Moment für meine Werte kämpfen – ich fühle mich nur noch den Menschen hier verpflichtet.

Auch Ihr Sohn wohnt schon länger nicht mehr in Israel, sondern in Deutschland, warum wollen Sie trotz allem in Israel bleiben?

Meine Tochter ist zwei Monate nach dem 7. Oktober nach Washington gegangen, mit ihrem Mann und ihren drei Kindern. Ich und mein Mann, wir sind beide über 70, haben mittlerweile keine Familie mehr in Israel. Früher dachte ich, dass ich, wenn ich alt bin, jeden Freitag mit meiner großen Familie am Tisch sitzen werde, zusammen mit meinen Kindern und den vielen Enkeln. Ich dachte, wir würden einander Geschichten erzählen und beisammen sein, hier in Israel. Dieser Traum ist zerbrochen. Wenn ich gehen wollte, könnte ich es, denn ich habe einen österreichischen Pass. Er war eines der ersten Dinge, die ich in den Safe gelegt habe. Manchmal würden wir Israel gern verlassen, aber auf der anderen Seite fühlt es sich unmöglich an. Ich empfinde eine tiefe Verpflichtung den Familien der gekidnappten Söhne, Töchter, Mütter, Väter gegenüber. Es gibt hier noch immer Menschen, für die ich da sein will, denen ich helfen will. Es geht nicht mehr um das Land, kein Stück. Sondern um die Menschen, für die meine Worte vielleicht einen Unterschied machen können. Ich kann sie nicht allein lassen. Eine andere Sache, die ich nicht zurücklassen will, ist meine Muttersprache.

Ist Ihre Sprache das Werkzeug, um dem Schrecken zu begegnen?

Lassen Sie mich eine Anekdote aus meinem Alltag erzählen. Ich habe vor einigen Tagen meine beste Freundin im Krankenhaus besucht. Sie hatte eine Transplantation der Augenhornhaut hinter sich, sie war vorher nahezu blind. Als ich kam, lag sie im Bett. Ich brachte ihr Blumen und Schokolade, und während ich an ihrem Bett saß, erzählte sie, mit den Tränen kämpfend, über den Spender, von dem sie das Transplantat bekommen hatte. Er war ein Soldat, der in Gaza gefallen ist. Und ein Freund ihrer Tochter aus der Highschool. Auch sie selbst hatte ihn persönlich gekannt – das wusste sie aber bis zum Moment der Spende nicht. Von dem Moment an fehlten uns beiden die Worte. Wir tranken weiter Kaffee, haben unseren Kuchen gegessen, im Fernsehen gehört, dass es neue Opfer im Norden gibt – auf beiden Seiten -, aber wir blieben stumm. Was für ein Zufall das war. Sie war beinahe erblindet, und der junge Soldat, den sie auch noch kannte, ist im Einsatz gestorben und wurde ihr Spender. Bevor ich ging, sagte sie noch, sie sehe sein Gesicht nun ständig vor ihren Augen. Das sind die Geschichten des täglichen Zusammenlebens, die hier passieren. In dem Moment hatte ich keine Worte, nun finde ich sie.

Sie haben sich immer auch für die Rechte von Palästinensern eingesetzt. Haben Sie Kontakt zu Menschen in Gaza?

Nein, das ist nicht möglich. Aber ich habe noch Kontakt zu Freunden, die in Ostjerusalem leben, israelische Araber. Auch sie wünschen sich Frieden. Wir schreiben noch miteinander, aber treffen uns nicht mehr. Doch um eine Freundschaft zu führen wie vorher, müssten wir einander auch persönlich treffen. Wir fühlen uns in dieser Situation vielleicht ähnlich, aber wir haben keine gemeinsamen Visionen mehr, keine Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. Wenn wir uns nach dem 7. Oktober gegenseitig angerufen haben, dann gab es nichts mehr, was wir einander sagen konnten. Wir vermissen die Vergangenheit, die wir miteinander hatten, aber sehen keine Zukunft.

Viele Staaten und Akteure kritisieren die israelische Regierung für ihr Vorgehen in Gaza. Sie sagen, das Vorgehen sei nicht angemessen, die zivilen Opfer zu hoch. Auch die Bodenoffensive im Südlibanon wird scharf kritisiert.

Ich sage: Jeder, der gerade darüber nachdenken kann, ist privilegiert. Ich bin eine Feindin im eigenen Land, weil ich liberal bin, weil ich vom Frieden träume, weil ich die Besatzung beenden will und den Krieg erst recht.
Für mich gehört es ins Reich der Träume, dass ich in dieser Situation meine Stimme gegen die Regierung erheben kann und für meine Werte kämpfe. In Israel wollen die rechte Regierung, die Extremisten und die Ultraorthodoxen einzig und allein Rache und einen Sieg – egal um welchen Preis. Das sind beides Wörter, die ich niemals nutzen würde. Sie gehören nicht zu mir. Ich als liberale Israelin teile mit diesen Menschen nicht einmal mehr den gleichen Wortschatz. Sie wollen mich nicht mehr, und ich sie ebenso wenig. Der Graben zwischen uns ist riesig. Ich habe Angst vor dieser Regierung und ihren Soldaten. In meinen Träumen laufe ich vor ihnen weg, immer und immer weiter. Ich wache auf, bin schweißnass, und es fühlt sich an, als sei ich einen Marathon gelaufen. Aber wohin? Ich weiß es nicht.

Antisemitismus und antisemitisch motivierte Straftaten nehmen deutlich zu, auch hier in Deutschland.

Die Wellen, die der 7. Oktober schlägt, brechen überall – nicht nur in Israel. In Deutschland ist es für mich nicht mehr wie vorher. Ich fühle mich nicht mehr sicher, wenn ich über die Straßen laufe, mich als Israelin vorstelle oder Hebräisch spreche. Ich sage die meisten meiner Lesungen ab, aus Angst, dass ich angegriffen werde. Ich habe immer für Frieden und Gleichheit gekämpft, und jetzt muss ich mich für meine Existenz rechtfertigen. Zu einer Lesung in der Schweiz bin ich mit einem Bodyguard gefahren. Es ist vor allem einfach, die Juden zu hassen, ihnen an allem die Schuld zu geben. Dabei ist die derzeitige Situation unglaublich komplex und hat so viele Ebenen. Aber scheinbar haben wenige im Moment die Kraft und die Toleranz, jeden Menschen anhand seiner eigenen Geschichte zu beurteilen. Auch mich sehen die Menschen aktuell als jemanden, der zum Judentum gehört – dabei bin ich nur durch meine Gene Teil der jüdischen Geschichte.

Sie sagen, Israel ist nicht mehr ihr Land,
aber sie sind nichtsdestotrotz Israelin.

Ich bin Israelin und demonstriere seit drei Jahren gegen die Regierung dieses Landes. Ich schäme mich dafür, wie sie Israel führt. Ich bin für die liberalen Menschen hier, für die, die für Freiheit kämpfen, und für Gleichheit. Ich bin für die liberalen Menschen überall auf der Welt, egal welcher Religion und welchen Geschlechts. Doch wenn ich irgendwo ankomme, dann bin ich jüdisch, und das ist, worauf die Menschen reagieren. Die eigentliche Reaktion dieser Menschen gebührt aber der israelischen Regierung – und der Hamas. Sie gebührt den Extremisten, den Faschisten, die keine Empathie haben, die nach Rache und Sieg trachten.

Hier in Deutschland gilt die Sicherheit Israels als sogenannte Staatsräson. Die Verpflichtung ergibt sich für die Bundesregierung aus der Verantwortung Deutschlands für den Holocaust und die Verbrechen gegen das jüdische Volk. Deutschland ist nach den USA einer der wichtigsten Waffenlieferanten für Israel.

Ich würde mir wünschen, dass die deutsche Regierung kritischer mit dem Vorgehen der israelischen Regierung ins Gericht geht. Ich denke, Deutschland ist – eben aufgrund der Vergangenheit – moralischen Werten verpflichtet und nicht der israelischen Regierung. Deutschland ist der Freiheit und der Menschlichkeit verpflichtet. Es sollte sich gegen Krieg einsetzen, gegen die Besatzung, gegen Entmenschlichung. Es sollte sich dafür einsetzen, dass alle Menschen die gleichen Werte genießen können. Dass Deutschland Israel auf alle Ewigkeit in die Opferrolle steckt, ist falsch. Die Schuldgefühle für die Vergangenheit sollten nicht das heutige Handeln bestimmen. Aus ihnen sollte eine Verantwortung erwachsen. Ich würde mir wünschen, dass die deutsche Regierung für die liberalen Israelis spricht, die heute völlig isoliert sind. Denn sie stehen für das, was Deutschland sich von Israel nach der Staatsgründung erhofft hat.

Der Krieg im Nahen Osten eskaliert immer weiter. Israel operiert in Gaza und Libanon. Iran beschießt Israel großflächig.

Ich fürchte, es wird noch lange so weitergehen. Jeder will der Gewinner sein, doch es kann in dieser Situation schon lange keine Gewinner mehr geben. Als ich sah, was im Libanon passierte und die Pager der Hisbollah explodierten, war ich für einen Moment froh. Und dann frage ich mich völlig erschrocken: Lizzie, bist du endgültig verrückt geworden, dass du dich freust, dass der Mossad weiß, wie man Menschen tötet? Es ist eine völlig schizophrene Situation. Ich möchte nicht, dass Israel den Krieg verliert – aber ich will auch nicht, dass Netanjahu gewinnt. Dieses Streben nach einem Sieg ist auf allen Seiten zu einer Sucht geworden, und ich weiß nicht, was die Eskalationsspirale aufhalten kann. Letztlich ist es ein rassistischer Konflikt. Es geht ihnen darum, wer besser ist: Juden oder Araber.

Lizzie Dorons neues Buch „Wir spielen Alltag. Leben in Israel nach dem 7. Oktober“ erscheint am 17. April 2025 bei dtv.

F.A.Z./FAZ.NET, 07.10.2024