Am Grund des Universums
Norbert Scheuers Romane lassen sich nicht kurz zusammenfassen und empfehlen. Immer, wenn ich als Buchhändler das versuche, lande ich in einer der vielen Geschichten, aus denen sich seine Romane zusammensetzen. Aber eine einzelne Geschichte kann nicht den ganzen Roman wiedergeben.
Und das Verkaufsgespräch scheitert…
In seinem neuen Buch „Am Grund des Universums“ geht es um das Auslaufen der Kaller Talsperre. Natürlich eine Katastrophe. Für den Schriftsteller interessant ist aber der Schlick, der Matsch, der Boden der Talsperre, der nun zu sehen ist.
Was liegt da alles verborgen?
Ich lese diese Talsperren Geschichte als Bild für Scheuers Schreiben:
Lauter Dinge tauchen aus dem Schlick auf, die in seinen Romanen schon einmal eine Rolle spielten. Schlick und Schlamm sind sozusagen das Hirn,
der Mittelpunkt von Scheuers Schreiben. Hier fängt alles an.
Ein bißchen Wühlen und schon tritt etwas aus dem ungeformten Erinnern hervor und gibt eine Geschichte frei. Geschichten zu erzählen ist notwendig, lebenswichtig: wir müssen erzählen um zu vergessen und wir müssen erzählen um zu leben. Schicksale von Menschen werden mit wenigen Worten eher berichtet als erzählt.
Nichts wird gewertet – was erzählt wird, ist einfach da. Scheuers Literatur behauptet nichts und will auch gar nichts – sie ist da, ganz einfach.
So ist die beschriebene Natur auch die Literatur selber.
Natur ist Literatur und Literatur ist Natur.
Manche Geschichten seiner Romane stammen aus dem Mythenschatz der Antike: Diogenes im Fass taucht als Nina im alten Wasserfasswagen wieder auf. Dädalos stirbt statt seines Sohnes Ikarus, gewollt, als er versucht mit den Falken zu fliegen und es endlich schafft über die Lärmschutzwand der neuen Autobahnbrücke zu springen. Das wild gewordene Pferd springt übers Scheunentor und erinnert an das Dichterross Pegasus. Und im Zug nach Kall sitzt ein junger Mann mit dem Rücken zur Fahrtrichtung: er sieht seine Vergangenheit. Wie die Menschen auf dem Weg in das antike Totenreich ist er rückwärts unterwegs seine Geliebte in die Welt zurückzuholen. Was ihm gelingt!
Das Supermarktcafe von Kall ist der Treffpunkt der „Grauen“. Sie sind lauter alte Männer, die wegen ihrer Pillen, die sie nehmen müssen, nicht mehr Bier trinken können: Stattdessen sitzen sie hier, bekommen alles mit, wissen alles, kommentieren und notieren es. Sie sind das Zentrum, sie sind der Chor aus dem antiken Drama. Und sie geben der Einsamkeit, in der die meisten Figuren leben, so etwas wie einen Halt, einen Trost.
Und dann ist da dieses Verlangen nach entfernten Orten, die Sehnsucht nach Menschen, die nicht mehr da sind. Wenn Nina nachts Zeitungen in Kall verteilt, ist auf dem Bollerwagen auch ihr fantasierter Bruder dabei, der sich eigentlich aber mit dem Paddelboot über den Atlantik müht, um dann, wie die Aale am Ende ihres Lebens, in der Sargassosee zu verschwinden. Oder Lünebach, der mit einer selbstgebauten Rakete dem Ort seiner Sehnsüchte entgegen fliegt und dabei von oben auf Kall schaut und feststellt, dass vielleicht das eigentliche Universum da unten ist. Sophia, die sich nach ihrem in China verschwundenen Mann Eugen sehnt und das Warten mit dem Träumen von chinesischer Kultur verbringt.
Und dann wäre da noch Scheuers Verbundenheit mit den Tieren. Der große Fisch, den man angeln möchte, weil er etwas über unser Selbst sagen kann. Die markanten Rufe der Kraniche auf ihrem Zug nach Süden. Hier, im neuen Roman, findet Lünebach am Ende des Universums Bienen. Summende Bienen aus einer Riesenwabe, die mit ihrem Summen Geschichten erzählen und vielleicht ein Wissen über unser Leben haben, das wir nicht verstehen können. Ähnlich wie die Uferschwalben an der Urft, die sich ständig zwitschernd unterhalten. Am Ende des Buches macht sich Paul auf in Brasilien die Sprache der Kolibris zu erforschen, die nämlich nicht vererbt, sondern erlernt wird. Also vielleicht ein geheimes Wissen über unsere Welt preisgeben kann, auf das wir so angewiesen zu sein scheinen, um endlich befriedet leben zu können.
So sind Norbert Scheuers Bücher Heimatliteratur.
Nicht im Sinne, dass eine heile Eifeler Lebenswelt beschrieben würde und Kall ein Sehnsuchtsort wäre. Nein. Norbert Scheuers Bücher gehören zu meiner inneren Heimat. Seine Geschichten sind Teil meiner inneren Landschaften geworden. Er drückt etwas aus, das ich nicht beschreiben könnte. So eine Art heitere Melancholie. Und der Sound seiner Sätze ist etwas, nach dem ich mich sehne, dem ich gerne jedes Mal neu, gebannt zuhöre.
Lesen Sie!
Holger Schwab