Warum ist eigentlich der 8. Mai in Deutschland kein Feiertag?
Der Tag, an dem das nationalsozialistische Deutschland kapitulierte,
das Morden beendet und der Weg in ein freies und
demokratisches Land geöffnet wurde.
Machen wir einen persönlichen Feiertag mit einem Buch!
Dieses:
„Das große Heft“ von Agota Kristof.
Ich bin heute genauso gefesselt wie beim ersten Lesen.
Claus und Lucas, Zwillingsbrüder, neun Jahre alt, werden von ihrer Mutter bei der Großmutter abgegeben. Es ist Krieg. Die Mutter muss aus dem Land fliehen. Die Goßmutter gilt als Hexe und „Asoziale“ (übrigens eine Wortschöpfung der Nazis). Dadurch entgeht sie der sozialen Kontrolle, keiner achtet auf sie. Die Goßmutter weigert sich allerdings auch, die Jungen zu erziehen.
Das machen sie auf radikale Art selber.
Sie beobachten die Erwachsenen, diskutieren, was sie erleben und machen sich Regeln, die sie in ihr großes Heft schreiben.
Um sie dann anzuwenden.
Zunächst härten sie sich ab. Geistig, indem sie sich gegenseitig immer schlimmer beschimpfen – bis die verletzenden Worte nicht mehr in ihr Denken eindringen. Und körperlich durch brutale Methoden, bis sie Schmerz nicht mehr spüren.
Und, verblüffend für den Leser,
sind sie diejenigen, die sich Mitgefühl leisten können,
die anderen helfen, Täter bestrafen und
sich auf schockierende Weise eine Zukunft schaffen.
Ziemlich radikal!
Die Sprache des Buches ist äußerst verknappt und schonungslos.
Das ist ein absolut faszinierendes Buch.
Und dann das neue Buch von Jürgen Wibicke:
Es gibt die Kriegskinder – Menschen, die im 2. Weltkrieg Kinder waren, und in einem Taumel von Gewalt, Vertreibung, Schuld und
Verlassenheit während des Krieges lebten. Und es gibt deren Kinder, die Nachkriegskinder und die Kriegsenkel, die in Frieden und Wohlstand aufwuchsen – Aber unter den psychischen Folgen des Krieges litten und leiden.
Tatsächlich bis heute.
Die Kriegskinder haben eisern geschwiegen. Vielleicht war Weiterleben nur so möglich. Aus diesem Schweigen wurden Familiengeheimnisse:
sie bleiben vielleicht geheim, wirken tun sie dennoch.
Jürgen Wiebicke hatte Glück. Vater wie Mutter haben kurz vor ihrem Tod angefangen zu reden. Mit dem Vater hat er lange am Sterbebett im Krankenhaus geredet, ihm zugehört. Seine Mutter entschied sich richtig zu erzählen und Wiebicke sollte aufschreiben. Ergebnis ist dieses Buch, das eigentlich alle lesen sollten. Vieles von dem über das Wiebicke schreibt, kennt man in ähnlicher Form
aus der eigenen Familie.
Jede Nacht hat seine Mutter nachts schreiend in den Armen ihres tröstenden Mannes gelegen. Beide haben nicht darüber geredet. Weder über das Schreien noch über den Grund dafür. Der Vater ist auch nie aufs Sofa gewechselt.
Wiebicke erzählt einerseits die Geschichte seiner Eltern im Weltkrieg und im Nationalsozialismus, andererseits den Prozess des Sterbens der Mutter. Alle Fragen, die wir uns stellen, tauchen auch hier auf: Wie kann man human sterben? Wie entkommt man der Maschine Krankenhaus?
Wenn nicht im Krankenhaus sterben, wo dann?
Wie geht trauern? Was macht der Tod mit mir, was mache ich mit ihm?
„Dein Gedächtnis ist mein Haus.“
Ein Satz, der das Leitmotiv für Wiebicke ist.
Ein anderer: „Geteilte Erinnerungen beheimaten uns.“
Das erzählt er auf sehr nahe, fragende und schöne Weise:
wie man das von ihm als Radiomoderator kennt.
Und nicht, dass das ein Thema ist, das bald zu Ende wäre:
Der Bosnienkrieg, die Kriege in Afghanistan und Syrien haben Menschen in unser Land gebracht, die auch Kriegskinder sind.
Holger Schwab